Zur Eroberung, eine kurze Geschichte des Fortschritts (Schweizer Geschichten 2013, von Christophe Chammartin) - Swiss Press Award

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Christophe Chammartin
Zur Eroberung: Eine kurze Geschichte des Fortschritts Mit der Erweiterung um Mittel- und Südosteuropa hat die Landwirtschaft der Europäischen Union ihr Produktionspotenzial deutlich gestärkt. Einige der neuen Mitgliedstaaten treten der Union mit einer langen landwirtschaftlichen Tradition bei, die sich in neuen Flächen, einem höheren Tierbestand und einer beträchtlichen landwirtschaftlichen Bevölkerung niederschlägt. Rumänien hat 22 Millionen Einwohner, von denen 30 % (ca. 7 Millionen) Landwirte sind. In Frankreich sind 3,4 % Landwirte, im Vereinigten Königreich 1,4 %. Es ist sicher, dass die landwirtschaftliche Bevölkerung der neuen Mitgliedstaaten parallel zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft abnehmen wird. Aber wie sieht das Leben dieser Menschen eigentlich aus? Seit September 2010 bereise ich Europas Straßen, um zu verstehen, wie rumänische Landwirte ihre neue Realität erleben. Dieser Bericht stellt verschiedene Arten von Landarbeitern vor, die in Siebenbürgen, im Herzen Rumäniens, leben. Die bäuerliche Selbstversorgung ist in den rumänischen ländlichen Gebieten weit verbreitet, wo etwa 10 % der landwirtschaftlichen Bevölkerung der Europäischen Union ihren Lebensunterhalt verdienen. Rumänische Subsistenzbauern stehen im Wettbewerb mit westlichen Agrarkonzernen. Ausländische Unternehmen profitieren vom leichteren Zugang zu europäischen Agrarfonds und im eigenen Land aufgenommenem Bankkapital und spielen daher nicht in derselben Liga wie die rumänischen. In Zagon, einer 5.000-Einwohner-Stadt in Siebenbürgen am Fuße der rumänischen Karpaten, erlebe ich mehrere Wochen lang die Realität eines Bauernpaares, das auf verstreuten Parzellen von insgesamt knapp zwei Hektar lebt. Rémi und Maria haben beschlossen, auf ihrem Land zu bleiben. Sie kombinieren Subsistenzlandwirtschaft mit verschiedenen Gelegenheitsjobs wie Metzger, Bestatter, Händler und Polizeihelfer. Sie sind außerdem auf eine Dorfgemeinschaft angewiesen, in der Tauschhandel und der Austausch von Dienstleistungen weit verbreitet sind. Aufgrund der Größe ihres Landes und ohne Zugang zu fließendem Wasser und natürlich Internet ist das Paar weit entfernt von europäischen Subventionen. Wenige Kilometer entfernt treffe ich Georghe, einen Landwirt und Gashändler in Valea Mare. Seine Familie bereitet seine Abreise vor. Der Mann, der über ein undurchsichtiges Netzwerk von Mittelsmännern angeworben wurde, weiß nicht genau, wo in Deutschland er arbeiten wird … Am Morgen des 8. Juli 2011 treffen sich Dutzende Busse aus ganz Rumänien an der Grenze. Jeder Passagier hat 100 Euro für sein Ticket dabei. Georghes Name steht auf einer Liste, Ziel Karlsruhe. Nach einer 36-stündigen Fahrt wird uns der Bus direkt vor den Toren eines industriellen Gemüseanbauunternehmens in Baden-Württemberg absetzen. In Rumänien leben 350.000 Kinder ohne ein oder beide Elternteile, die aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland gegangen sind. Schließlich folgte ich in die Stadt Nochrich bei Sibiu, wo ich Samuel und Stefan folgte, zwei jungen Schweizer Metzgern aus dem Toggenburg. Nachdem sie sich drei Jahre lang in Siebenbürgen niedergelassen hatten, um mit Bio-Rindfleisch ihr Glück zu machen, gründeten sie ihre Firma Karpaten Meat. Mit der finanziellen Unterstützung eines auf ökologische agroindustrielle Investitionen spezialisierten Konsortiums konnten sie mehr als 1.000 Hektar erwerben. Dank zahlreicher Partner bewirtschaften sie einen landwirtschaftlichen Betrieb von fast 4.000 Hektar. Ihre Herde umfasst derzeit tausend Kühe und wird sich voraussichtlich schnell verdoppeln. Sie kaufen ihre schottischen Kühe in Baden-Württemberg in Süddeutschland. Ihr Vorstand sitzt in Zürich, Schweiz. Siebenbürgen birgt im kollektiven Unterbewusstsein zahlreiche legendäre Bilder. Der Wolf und der Bär sind selbst in den Städten präsent. Der Wunsch, in diese Mythen einzutauchen und sie in sich aufzunehmen, bestimmte den Ort dieser Arbeit. Ich bin auf poetische Weise an diese mittelformatige Farbreportage herangegangen, um die besondere Emotion zu vermitteln, die die siebenbürgischen Herbstwälder hervorrufen. Durch die Verwendung alter Negativfilme entdecke ich die Pastelltöne der rumänischen Nostalgie wieder, die mich während der gesamten Arbeit begleitet haben. Durch diese sozialpoetische Reportage biete ich dem Betrachter eine Ausstellung mit 35 Bildern. Ein Raum für Reflexion und Selbstbeobachtung jenseits des üblichen Schemas aktueller Ereignisse. Rumäniens wichtigster sozioökonomischer Sektor verändert sich rasant. Jeder Tag offenbart die Fragilität der europäischen Agrarpolitik. Es ist an der Zeit, die Achsen einer produktivistischen Agrarpolitik nach den Versäumnissen des Zweiten Weltkriegs neu zu definieren. Unsere Ernährung bleibt mehr denn je eine grundlegende Verantwortung der Gesellschaft und jedes Einzelnen.
